02. Januar 2019 – Osorno, Chile
Der zweite Teil unserer Reise durch Patagonien führt uns durch die endlose, menschenleere Steppe Argentiniens, vorbei an verrückt gewordenen Grenzbeamten, durch Sandstürme, Krankenhausparties, weiter über die Carretera Austral durch üppigen Regenwald, vorbei an imposanten Gletschern, geheimnisvollen Höhlen und zu Lili – einer Aussteigerin aus Deutschland.
Irgendwo im Nirgendwo
Die Carretera Austral – über die wir durch Chile in den Norden trampen wollen – ist immer noch ewig weit weg. Irgendwie nach O’Higgins zu kommen, dort wo die Carretera beginnt, ist zu einer wahren Mission geworden. Auf der chilenischen Seite ist Patagonien von Fjörden, Seen und Flüssen zerklüftet und mit viel Eis bedeckt. Das macht es unmöglich von Punta Arenas über Land nach Norden zu kommen ohne die argentinisch-chilenische Grenze etliche Male im Zickzack zu überqueren.
Keine Ahnung der wievielte Grenzübergang dieser hier ist, wir haben aufgehört zu zählen.
Der druchgedrehte Grenzbeamte
Die Grenzbeamten wirken hier unten alle leicht unterbeschäftigt, hier im Niemandsland. Bei der Frequenz von Leuten die hier alle paar Tage mal die Grenze überqueren ist das aber auch kein Wunder. Da würde wohl jedem von uns ein bisschen langweilig werden.
Der Beamte lässt sich Zeit, begutachtet meinen Pass aus allen möglichen Winkeln, dreht und wendet ihn, blättert ihn ein paar Mal gewissenhaft durch, Seite für Seite. Dann löst sich sein Blick aus dem Dokument und wandert langsam hoch zu meinem Gesicht. „Ist das dein Pass, oder was ist das?“
„Wie?!“, ich bin ein bisschen verblüfft über seine Frage. „Klar ist das mein Pass.“ Er blickt zurück auf den Ausweis. „Der ist doch am verschimmeln. Guck, hier sind überall Schimmelflecken drauf. Ausserdem fällt der fast auseinander. Das ist doch kein Pass mehr. Den stempel ich nicht ab.“ Jule und ich gucken uns an, wissen nicht genau wie ernst wir diesen Typ nehmen sollen.
„Wir waren auf dem Atlantik und im Amazonas unterwegs, da hat er blöderweise ein bisschen Feuchtigkeit abbekommen. Das kann ich doch jetzt nicht ändern…hier mitten in der Pampa!“ Vielleicht hat er ja ein bisschen Verständnis, hoffe ich. Seine Augen sind jetzt nur noch zwei Schlitze die uns misstrauisch von oben bis unten mustern. Wir warten geduldig ab.
Dann setzt er den Migrationsstempel in den Pass und hält ihn mir entgegen. „Nächste bitte.“ Jetzt ist Jule dran. Wieder blättert er den Ausweis von vorne bis hinten durch, dann, von hinten nach vorne. Plötzlich hält er inne, drückt schnell den Stempel auf eine Seite und bricht in Lachen aus. Grunzend, weil er den Lachanfall nur schwer unterdrücken kann, gibt er Jule den Pass zurück.
Schnell, bevor diesem irren Beamten noch was anderes einfällt, packen wir unsere Sachen und gehen. Draußen hören wir ihn immer noch laut lachen. Was in den gefahren ist, das werden wir wohl nie raus finden, aber Hauptsache die Stempel sind drin. Wir laufen weiter über die leere Straße Richtung Argentinien, im Rücken die untergehende Sonne.
„Alle die hier vorbei kommen, sind verloren.“
Kurz vor El Calafate. Zwei Stunden warten wir bereits am Straßenrand – Steppe. Nichts weiter als Steppe. Hier gibt es weder Verkehr, noch Siedlungen, noch Wasser noch irgendwas anderes dem Leben freundlich gesinntem. Dass wir mehrere hundert Kilometer durch dürre Steppe trampen müssen, damit hatten wir gerechnet, dass hier allerdings innerhalb von mehreren Stunden kein einziges Auto vorbeifahren würde nicht.
Als ich das Verkehrsschild neben uns näher betrachte, entdecke ich Mitteilungen, die andere Tramper*innen dort eingeritzt hatten: „Alle die hier vorbei kommen, sind verloren.“ und „Wenn du Hunger hast, bleiben dir zwei Optionen: töte ein Guanacho oder iss deinen Daumen.“ Was für ein Glück, dass wir noch ein paar Kekse im Rucksack haben. Ein anderer bestätigt was wir sowieso schon wissen: „Außer dir gibt es hier niemanden.“
Hier haben wohl schon mehrere Unglückliche vergebens auf ein Auto gewartet.
Manchmal vergehen Stunden ohne dass ein Auto vorbei kommt.
Gauchito Gil – der Heilige, der Zigaretten und Wein liebt. Seine roten kleinen Häuschen säumen die Straßenränder Patagoniens. Er wir auch der argentinische Robin Hood benannt weil er der Legende nach ebenfalls von den Reichen stahl um den Armen zu geben. Ausserdem soll er über wundersame Heilkräfte und die Fähigkeit zur Hypnose verfügt haben. Heute ist er der Beschützer der Reisenden.
Ein Auto haben wir gefunden. Leider kommen wir damit nicht sehr weit.
Aus Mangel an Alternativen entscheiden wir uns die leere Straße entlang zu laufen anstatt weiter an einer Stelle zu warten. Am Abend kommt tatsächlich ein Pickup und nimmt uns mit zum nächsten Dorf. Dort verbringen wir die Nacht.
Endlich ein Lift!
Der nächste Morgen sieht nicht vielversprechender aus, wenigstens ist ein Dorf in der Nähe, falls uns das Wasser ausgeht. Aber irgendwer wird schon irgendwann vorbei kommen….Es ist zu kalt und zu windig um am Straßenrand zu warten, also laufen wir, und laufen und laufen. Ich glaube es ist Stunde drei oder vier als Wendy und Ray neben uns ran fahren. „Springt rein!“ Nichts lieber als das!
Ray fährt auf dem Mittelstreifen weil das Auto immer wieder von unvorhersehbaren Windböen erfasst wird. „Jetzt verstehe ich auch warum die Autos hier gegen Türabriss versichert sind“, sagt Wendy. „Die Verleiher hatten uns extra darauf hingewiesen, dass wir bei starkem Wind beim Ein- und Aussteigen unbedingt die Türen festhalten sollen. Autotüren würden hier ständig wegfliegen.“
Noch 20 Kilometer bis zur Kreuzung in Las Horquetas, dort wo Jule und ich links Richtung Passo Meyer – der chilenischen Grenze – abbiegen müssen. Hoffentlich beruhigt sich der Sturm bis da hin.
Eine halbe Stunde später stehen wir beide dann in Las Horquetas und fragen uns warum ein Mensch diesem Fleckchen Erde wohl mal einen Namen gegeben hat. Wir hatten mit einem Dorf oder wenigstens einer Siedlung gerechnet aber nichtmal einen Meilenstein gibt es hier. Nichts unterscheidet diesen Punkt von den anderen hundert Kilometern Nichts drumherum.
Der Sturm hatte glücklicherweise etwas nachgelassen, als Ray und Wandy uns hier abgesetzt hatten. Sie hatten es sich nicht nehmen lassen, uns ziemlich einige Tüten Trekkingnahrung aus ihrem Vorrat mitzugeben. Wenn’s drauf ankommt, kommen wir damit sicherlich eine ganze Woche extra über die Runden.
Zwar hat der Wind ein klein wenig nachgelassen aber die Wolken am Himmel verheißen nichts gutes. Sie prophezeien stürmische Zeiten. Windstärken von über 100km/h sind hier unten quasi Alltag.
Ganz alleine sind wir immerhin nicht. Wir taufen unseren kleinen neuen Freund Tom.
Achzig Kilometer Wüstenstrecke liegen jetzt vor uns, bis zur Grenze. Zügigen Schrittes würden wir vier fünf Tage brauchen, auf der Karte waren ein paar Flüsse und Haciendas eingezeichnet wo wir sicherlich unser Trinkwasser auffüllen können. Wir kommen bis zur nächsten Kurve, circa fünf Kilometer, als der Wind wieder so zulegt, dass an weitergehen nicht mehr zu denken ist. Wir bauen einen kleinen Schutzwall mit unseren Rucksäcken und legen uns dahinter auf den Boden. Hier gibt’s nichts was uns irgendwie Schutz bieten kann. Kein Baum, keine Mauer, keine Mulde, kein Stein, Nichts. Vielleicht haben wir ja Glück und es kommt ein Auto vorbei – irgendwann mal. Irgendwann mal…
Ich traue meinen Augen kaum als sich – drei Stunden später – etwas hinter den braunen Sandwolken abzeichnet, was ein Fahrrzeug sein könnte, genau in unsere Richtung. Oder doch nur eine Fatamorgana? Nein, allmählich wird ein Pferdetransporter deutlich erkennbar. Wir wedeln aufgeregt mit den Armen, bemühen uns im Sturm aufrecht auf den Beinen zu halten und haben die Rücksäcke – fertig zum verladen – schon in der Hand, als der Transporter einfach an uns vorbei fährt…
Der Wind ist so stark, dass wir unsere Augen vor den fliegenden Steingeschossen mit Tüchern schützen müssen.
Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu kapieren dass die einzige Chance auf ein Lift gerade wirklich einfach an uns vorbei gefahren ist.
Der Wind hat wieder so an Geschwindigkeit zugelegt, dass er sogar kleine Steinchen zum fliegen bringt, die uns jetzt wie kleine Geschosse bombardieren. Auch in unserer Schutzhaltung am Boden ist es jetzt kaum mehr auszuhalten. Wir versuchen aufzustehen, werden aber sofort vom Wind fortgerissen. Es sind mittlerweile fast acht Uhr und wir können hier unmöglich die Nacht verbringen. Also entschließen wir uns, den ursprünglichen Plan aufzugeben und die vier Kilometer zurück zur Hauptstraße zu gehen um dort auf ein Auto zu warten was uns doch Richtung Norden bringen wird. Das bedeutet zwar dass wir den unberührtesten Teil der Carretera Austal auf der chilenischen Seite nicht sehen werden, aber eine andere Wahl haben wir nicht..der Wind wird uns noch steinigen.
Wir müssen uns gegenseitig festhalten um gehen zu können. Eine halbe Stunde später erreichen wir die Routa 40. Ich versuche die Straße ein Stück hinauf zu gehen um einen besseren Trampspot zu finden. Unmöglich, der Wind zerrt mich immer wieder in den Straßengraben. Und dann ein Rettungsschimmer: Ein Auto. Mit einer Hand halte ich mich an der Leitplanke fest, mit der anderen strecke ich meinen Daumen heraus. Das Auto stoppt.
Nur mit großer Mühe bekommen wir die Rucksäcke im Auto verstaut. Der Wind ist gnadenlos. Endlich sind die Rucksäcke drin und wir nehmen vorne Platz. Ich ziehe die Tür mit Gewalt zu. Stille. Es dauert ein paar Sekunden, bis sich der Fahrer umdreht und uns entgeistert anschaut: „Was zur Hölle macht ihr hier draußen?“
Er fährt uns bis ins 30 Kilometer entfernte Dorf Bajo Caracoles.
Das perfekte Nachtlager – ein verlassender Campingplatz mit Häuschen abseits des Dorfes bietet uns Schutz vor dem Wind (der hier glücklicherweise keine Tornadostärke mehr hat).
Das Dorf Bajo Caracoles: Eine handvoll Häuser, eine Tankstelle ohne Benzin, ein völlig überteuerter, winziger Kisok…das war’s auch schon. Morgen wollen wir in der Frühe weiter trampen. Aber es kommt mal wieder alles anders als geplant.
Hinter der Siedlung finden wir das perfekte Nachtlager: ein verlassenes Häuschen, das wohl mal die Rezeption eines Campingplatzes gewesen ist. Es gibt sogar noch zwei Stühle und ein paar alte Holzbretter mit denen sich fast so was wie Gemütlichkeit einrichten lässt. Weil es hier unten keinen Strom gibt gehe ich nochmal hoch ins Dorf um jemanden zu finden, wo ich über Nacht meine Kamerabatterie laden lassen kann.
In einem der Häuser brennt noch Licht. Morgen früh um zehn soll ich das Akku abholen kommen sagt Marisol, die Mutter der Familie. Leider finde ich das Haus am nächsten Tag verschlossen. Die Familie sei für ein paar Tage raus aufs Land gefahren, erklären mir die Nachbarn. Wir stecken fest. Immerhin haben wir unser kleines Häuschen unten in den Ruinen.
Nachdem wir den Naturgewalten so schutzlos ausgeliefert waren, kommt uns dieses Häuschen fast luxuriös vor – ein Geschenkt des Universums.
Wir richten es uns gemütlich ein.
Party im Krankenhaus
Juan Carlos musste uns unten in den Ruinen rum lungern gesehen haben. Jedenfalls steht er jetzt vor mir und stellt sich als der Krankenpfleger des Dorfs vor. „Ihr müsst hier nicht in den Ruinen schlafen. Ich wohne oben in der Krankenstation. Wenn ihr Lust habt kommt doch später auf einen Mate vorbei!“
Juan ist ein echter Vogel. Anfangs kommt uns der Mittfünfziger mit seinen Glubschaugen, die neugierig hinter der Hornbrille hervor gucken, ehrlich gesagt ein bisschen sonderbar vor. Aber je länger wir uns mit ihm unterhalten, desto deutlicher kommt seine lustige und kindliche Seite hervor.
Während wir – auf die für Argentinien übliche rituelle Art – den Mate teilen, erzählt er uns seine wundersamen Geschichten: „Ich bin vor drei Jahren alleine hier her gekommen, als die Stelle in der Krankenstation hier frei wurde. Wenn es hoch kommt, kommt vielleicht eine Person in der Woche hier vorbei. Meistens kommen die Leute wegen Beschwerden wie Bauchschmerzen oder Übelkeit. Aber langweilig ist mir selten. Guckt euch doch meine Anlage an!“, sagt er stolz. „Wie könnte mir da langweilig werden? Ich liebe die Musik und brauche nichts anderes im Leben um glücklich zu sein!“
Länger als eine Nacht wollten wir in dieser gottverlassenen Siedlung eigentlich nicht verbringen.
Er geht rüber zur Karaokeanlage, dreht die Boxen laut auf und schaltet die Discostrahler an. Bunte Lichtpunkte tanzen jetzt durch den ganzen Raum – über das Chaos hinten in der Ecke, über das kleine Waschbecken mit den benutzen Kaffeetassen, über die vollgestopften Hängeschränke an der Wand, über den Tisch.
Aus einem der Schränke zieht er jede Menge verrücktes Zeugs heraus: Perücken, Tröten, Schleifen, Plastikbrüste. „Hier“, sagt er breit grinsend und hält uns den bunten Haufen entgegen. „Ich geh was kochen. In der Zeit könnt ihr meine tolle Karaokeanlage ausprobieren!“ Kaum hat er den Satz beendet, ist er schon in der Küche nebenan verschwunden.
Juan serviert uns Nudeln mit Gemüsesoße, Bier und Wein – in „seiner“ Krankenstation.
Nach einer Weile kommt Juan mit dem dampfenden Abendessen unterm Arm zurück und stellt noch einen leckeren argentinischen Wein und zwei Bier auf den Tisch. Letztes Jahr hätte er mit zwölf Reisenden hier Weihnachten gefeiert, „Was für eine Sause!“ Das glauben wir ihm sofort.
Als uns dann doch die Müdigkeit irgendwann überfällt, bringt er uns ins Nachbarhaus das er gerade in ein Hostel umbaut. „Hier habt ihr Betten, eine Dusche, Toilette, Wasserkocher,…braucht ihr sonst noch was?“ Wir bedanken uns für seine unglaubliche Gastfreundschaft, verabschieden uns und schlummern gemütlich in den weichen Betten ein.
Am nächsten Morgen klopft es als wir gerade am frühstücken sind. Juan Carlos steht vor der Tür und hat mein Ladekabel in der Hand. „Marisol ist eben kurz zurück gekommen und dann wieder gefahren.“ Ein richtiger Engel dieser Carlos! Und dann nimmt er uns noch ein paar Kilometer bis zur Abzweigung mit, wo wir die Grenze Richtung Chile überqueren wollen.
Dort hinten wo man die Berge sieht liegt die chilenische Grenze – da wollen wir hin. Mal sehen ob es auf diesem Weg klappt.
Windgeschützte Stelle im Straßengraben – ich bereite uns einen energiebringenden Mate zu.
Nach drei gescheiterten Versuchen auf verschiedenen Wegen nach Chile zu kommen haben wir es bei der Grenze Chile Chico endlich geschafft. Zwar sind wir nun schon relativ weit im Norden und müssen nun auf den südlichen Teil der Carretera Austral verzichten aber freuen tun wir uns trotzdem riesig.
Sobald wir die Andenkette überquert haben, ändert sich die Landschaft plötzlich dramatisch. Nach so viel Trockenheit auf argentinischer Seite fühlt es sich an als seien wir im Paradis gelandet.
Die über dem Pazifik gebildeten Wolken regnen sich auf der Westseite der Anden – also auf chilenischer Seite ab. Während es hier vor Leben nur so strotzt, gibt es hinter der Bergkette – auf argentinischer Seite – nur Wüste.
Endlich auf der Carretera Austral
Hier sind wir nun also endlich – auf der Carretera Austral. Von Puerto Montt im Norden schlängelt sich die Straße über 1240 Kilometer durch Regenwälder und enge Täler, vorbei an aktiven Vulkanen und spitzen, gletscherbedeckten Bergen, über türkisblaue Flüsse und Seen bis nach Villa O’Higgins im Süden. Im Jahr 1976 hatte der Diktator Pinochet das Projekt Carretera Austral ins Leben gerufen. Davor waren die Orte nur per Flugzeug und Schiff erreichbar gewesen. Zwanzig Jahre dauerte die Fertigstellung, geteert ist sie aber auch heute nur auf ganz wenigen Abschnitten im Norden.
„Ich zeige euch ein Geheimnis.“ – hatte Eduardo gesagt, der uns beim trampen eingesammelt hatte. Er parkte das Auto, wir liefen einen steilen Pfad den Berg hinauf und kamen zu einer Höhle mit diesen Handabdrücken. Wir hatten von einer berühmten Touristenattraktion der „Cueva de los manos“ – Höhle der Hände, auf argentinischer Seite gehört. Von dieser hier wisse allerdings niemand, nur ein paar aus dem Dorf, sagte Eduardo. Es wird vermutet dass die Handabdrücke von den Vorfahren der Tehuelche stammen.
Auf dem Weg zu Lilly
Begegnungen am Straßenrand – Ein Fahrradfahrer hatte uns von dem alten Ehepaar Luzmira und Arthur erzählt, die frisches Brot und Marmelade aus Erbeeren von ihrem Garten verkaufen. Luzmira verkauft auch selbstgesponnene Wolle von ihren Schafen. Hier demonstriert sie uns wie sie die Wolle mit einer Spindel verarbeitet.
Zu Besuch bei der Aussteigerin Lilly
Ab der Carretera Austral geht es 10 Kilometer über eine schmale Schotterpiste ins Landesinnere. Lilly hatte uns gesagt, das wir die Strecke wahrscheinlich laufen müssen, weil dort so gut wie nie jemand vorbei fährt. Aber wir sind gerade zwanzig Minuten am Laufen, als von hinten ein Pferdetransporter in unsere Richtung rollt. Der Fahrer ist Lillys Mann Rosendo! Er hatte Bernando, seinen Sohn, für die Weihnachsferien in Cocrane abgeholt und ist jetzt auf dem Heimweg.
Bestimmt eine halbe Stunde rasen wir durch das Gestrüpp. Bis der Wald sich endlich lichtet und wir eine Hängebrücke erreichen die uns über den reißenden Gletscherfluss Rio Baker bringt. Ein paar Kurven weiter – der Weg wird immer schmaler – kommen wir an einen Hügel. Ein weites Tal tut sich vor uns auf, gesäumt von spitzen, zerklüfteten Bergen. Zwischen den Gipfeln riesige Gletscherfelder. Links stürzt tosend ein Wasserfall ins Tal. Unten grasen Schafe und Pferde im üppigem Grün. Zwei breite mäandernde Flüsse vereinen sich im Tal und bilden ein großes Inseldreieck auf dem drei Holzhäuser stehen. Aus dem einen steigt Rauch. Hier wohnt Lilly.
Rechts der Rio Nadis, links der Rio Baker. In der Mitte sieht man das Haus von Lillly und ihrer Familie und die Scheunen für ihre Schafe und Pferde.
Lilly heizt das Wasser auf dem Holzofen auf.
Vor zehn Jahren kam Lilly hier her. Mit Rosario und den zwei Kindern wollte sie sich den Traum von einem einfachen Leben in der Natur erfüllen. Warum gerade hier? „Hier draußen finde ich die Ruhe und Einsamkeit die ich brauche. Santiago, die Hauptstadt ist 2000 Kilometer von hier entfernt. Das nächste Dorf 50 Kilometer. Hier ist es noch wirklich abgeschieden!“ lacht Lilly, stellt den Kessel für das Teewasser auf den Ofen und legt ein paar Holzscheite nach. „Aber geplant hatte ich das so nicht unbedingt. Der Zufall hat mich zur Aussteigerin gemacht. Oder die Liebe…“
Lilly war 13, damals lebte sie noch in Kaufbeuren, als sie das Buch von einer Engländerin las, die mit Pferden durch Patagonien geritten war. Seitdem lies sie die Geschichte nicht mehr los. Mit zweiundzwanzig nahm sie einen Flug nach Argentinien, trampte in den Süden nach Coyhaique und kaufte sich dort Pferde um mit ihnen bis nach Villa O’Higgins zu reiten. Die Carretera Austral hatte es damals noch nicht gegeben. „Ich wollte dahin wo es noch richtig wild war, irgendwo wo man noch echte Abenteuer erleben konnte.“ Mit drei Pferden, ihrem Bruder, einem Kompass und einer Militärkarte ritt sie los.
Das Leben hier sei zwar nicht immer einfach – aber ein besseren Ort zum Leben kann sich Lilly trotzdem nicht vorstellen.
Lilly mit ihrem Hund.
Die einzige Kommunikation nach Aussen funktioniert über das Funkgerät oder das Satellitentelefon. Handyempfang gibt es hier nicht.
Aber die fünf kamen nicht weit. Es war schon zu spät im Jahr und die Pässe verschneit. Die Pferde blieben immer wieder in dem hohen Schnee stecken. An weiter reiten war jetzt nicht mehr zu denken in diesem Land was selbst im Hochsommer noch zu einem großen Teil mit Eis bedeckt ist. Also kehrten sie zurück nach Cocrane um dort den Winter abzuwarten.
Und dann kam die Liebe. Aber erst auf den zweiten Blick oder Dritten. „Ich sah Rosario zum ersten mal in einem Apfelbaum. Und dann ab und zu auf Dorffesten und Rodeos – da stand er immer so verwegen in der Ecke, dieser schweigsame Gaucho, der so anders war als die anderen. Er interessierte sich nicht für mich, oder tat zumindest so, aber das machte ihn umso interessanter. Ich ließ nicht locker und irgendwann hatte ich ihn dann erobert!“
Lilly blieb in dem Land in dessen raue Natur und Menschen sie sich damals sofort verliebt hatte und die beiden heirateten. Erst wohnten sie in einem Schafstall, als sie dann schwanger wurde suchte sich das Paar ein Grundstück wo sie ihr zukünftiges Leben als Familie aufbauen konnten. Sie fanden dieses hier, wo der Rio Nadis und der Rio Baker zusammenfließen und sie heute – nach zehn Jahren immer noch leben, mit Schafen, Pferden, Hühnern, Hunden Katzen.
Bevor Lilly schwanger wurde, lebte sie mit Rosario in einem alten Schafstall.
Als dann das erste Kind kam, suchte sich die junge Familie einen Ort wo sie ihre gemeinsame Zukunft aufbauen konnten. Sie fanden das Grundstück wo sie heute leben. Damals gab es weder Straßen noch Wege. Alles wurde mit dem Ochsenkarren hergebracht.
Hinter der Brücke sieht man Lilly und Rosario auf ihren Pferden. Immerhin gab es bereits eine provisorische Brücke über den Rio Nadis.
„Nein, einfach ist das Leben hier nicht. Vor allem mit den Kindern. Zum nächsten Krankenhaus sind es sieben Stunden, zur Schule zwei. Manchmal fehlt es uns hier an den grundlegendsten Dingen. Aber ein Leben in der Stadt? Nicht für alles Geld der Welt würde ich tauschen!“ Das kann Lilly jetzt mit Gewissheit sagen, denn vor ein paar Jahren stand tatsächlich schonmal jemand vor der Tür und bot der Familie Geld, sehr viel Geld, wenn sie hier wegziehen würden.
Dieser Jemand kam aus Europa, ein Vertreter des Stromkonzern HidroAysén. Hier wird bald ein Staudamm entstehen, sagt er, hier im Tal des Rio Baker. Eines der größten Dammprojekte in Patagonien? Über eine 1,912 Kilometer lange Trasse würde der Strom durch Hochspannungsleitungungen bis nach Santiago transportiert. Alles hochtechnologisch und absolut sicher! Und das beste: Alle werden davon profitieren. Die Bewohner der zukünftig überfluteten Grundstücke von einer neue Bleibe und viel Geld, die Region von neuen Arbeitsplätzen und einer besseren Infrastruktur – so kann man doch nicht leben im 21. Jahrhundert, ohne Autobahnen und Handyempfang. Und am Ende würde ein Großteil des Landes sogar mit grünem Strom versorgt! Wir sind doch alle vernünftige und moderne Menschen. Die Vorteile, die müssen sie doch sehen, Frau Schindele!
Für das Staudammprojekt sollten fast 6000 Hektar weitgehend unbesiedeltes Land geflutet werden. Um den Strom in den Norden des Landes zu transportieren, hätte ausserdem eine fast 2000 Kilometer lange Hochspannungsleitung gebaut werden müssen.
Das war ihre Masche und die zog bei Lilly nicht- dafür aber bei vielen Nachbarn. Sie zerstritten sich. Sogar Rosario überlegte einmal kurz aber Lilly erkannte die andere Seite. Ganze Täler würden unter den Fluten verschwinden, mit ihnen nicht nur Jahrhunderte alte Bäume sondern auch die Heimat unzähliger Pumas und den Pudus – die kleinsten Hirsche der Welt. Flüsse würden begradigt, Regen- und Urwälder gefällt. Eines der letzten intakten und wilden Regionen dieser Erde würde der Marktwirtschaft zum Opfer fallen. Im Namen der grünen Energie. Aber so funktioniert sie, die Welt heute, eine ungezähmte Natur bringt halt keinen Profit, wozu dann bewahren?
Lilly schloss sich mit den NachbarInnen zusammen, die auf ihrer Seite waren. Sie sammelten Unterschriften, informierten NGO’s und AktivistInnen, richteten sich ein Büro in Cocrane ein um von dort Presseveranstaltungen und Demonstrationen organisierten. Schnell solidarisierten sich Menschen aus Chile und weltweit mit der Widerstandsbewegung. Der Kampf dauerte fast 20 Jahre und am Ende hatten sie gewonnen.
Immer wenn jetzt jemand zu mir kommt und mir sagt, dass die einzelne Person doch sowieso nichts verändern kann, erzähle ich die Geschichte von Lilly. Wir sind eben oft einfach nur zu gemütlich um Verantwortung zu übernehmen.
Patagonien ohne Staudämme – der Bürgerinitiative ist es zu verdanken, dass das zerstörerische Projekt nicht realisiert wurde.
Auf dem Weg Richtung Norden – in La Junta treffen wir zwei andere Tramper mit denen wir uns ein verlassenes Haus am Wegrand teilen.